Ansporn und Verleugnung
Ein Interview mit Dagmar Herzog

Willkommen zur ersten Ausgabe des neuen Wirklichkeit Books Newsletters. Weiterhin informieren wir hier über neue Bücher und Veranstaltungen. Darüber hinaus hoffen wir, den Email-Newsletter als eigenständiges Publikationsformat zu etablieren, in dem neben kontextualisierendem Material zum Verlagsprogramm auch Essays, Kommentare und Empfehlungen von Freund*innen, Kolleg*innen und Genoss*innen erscheinen. Wir freuen uns über Anregungen, Kommentare und Kritik per Email.
Die erste Ausgabe des Newsletters enthält ein Interview mit Dagmar Herzog, deren Buch Der neue faschistische Körper im September 2025 bei Wirklichkeit Books erscheint. Dagmar Herzog, Distinguished Professor of History am Graduate Center der City University of New York (CUNY), hat sich intensiv mit der Geschichte der Sexualität und Religion, der Psychoanalyse und den affektiven Welten des Nationalsozialismus beschäftigt. Insbesondere das Zusammenspiel dieser Bereiche prägt ihre Arbeit und hilft, die Gegebenheiten unserer Gegenwart besser zu verstehen.
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Jonas von Lenthe (JL) Dein Buch Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts (2005) war ein einflussreicher Beitrag zur Debatte um Sexualität während und nach dem Nationalsozialismus. Welche Erkenntnisse hattest du bei der Arbeit an dem Buch und inwiefern haben deine Untersuchungen das gängige Verständnis dieses Themas in Frage gestellt?
Dagmar Herzog (DH): Zunächst einmal hat das Buch die Relevanz von Sex als ernstzunehmendes Thema deutlich gemacht. Sexualpolitik, sexuelle Sehnsüchte und Verhaltensweisen sind alles andere als trivial im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Der Blick auf sie lässt uns wichtige neue Aspekte der antijüdischen Stimmung, der starken Anziehungskraft des Nationalsozialismus, der Rolle der christlichen Kirchen und der generationenübergreifenden Konflikte um die Erinnerung an den Holocaust erkennen – aber auch solche der Aushandlung zwischen Bürger*in und Staat im demokratischen Kapitalismus der Bundesrepublik sowie im Staatssozialismus der DDR. Zweitens war die provozierende Überraschung offenbar, dass das Dritte Reich bei weitem nicht so prüde und sexuell restriktiv war, wie lange angenommen – das gilt zumindest für nicht-behinderte, nicht-homosexuelle „Arier*innen“ (die immerhin die Mehrheit der Bevölkerung stellten). Im Gegenteil, kein Regime in der Geschichte hatte sich zuvor so systematisch die Aufgabe gestellt, vor- und außereheliche heterosexuelle Begierden zu stimulieren, und dabei geschickt zu leugnen, dass es genau das tat. Ich untersuchte also, wie diese Kombination aus Ansporn und Verleugnung funktionierte. Drittens zeigte ich, wie die Nachkriegsdeutschen in ihren Auseinandersetzungen um Sexualmoral intensiv miteinander über das Erbe des Nationalsozialismus diskutierten und versuchten, die verschiedenen möglichen Beziehungen zwischen der Lust und dem Bösen zu verstehen. Ich wollte herausfinden, wie es möglich war, dass ein Autor in den 1960er Jahren (Arno Plack zum Beispiel – sein Buch war ein Bestseller!) behaupten konnte: „Es wäre falsch, die Ansicht zu vertreten, dass alles, was in Auschwitz geschehen ist, typisch deutsch war. Es war typisch für eine Gesellschaft, die Sexualität unterdrückt.“ Diese Aussage ist historisch falsch. Aber solche Ansichten erwiesen sich als unverzichtbar, um einen fortschrittlichen und humanen sozialen Wandel in der deutschen Nachkriegsgesellschaft voranzutreiben.
JL: Dein neuestes Buch, Eugenische Phantasmen. Eine deutsche Geschichte (2024), ist eine Kulturgeschichte der Eugenik in Deutschland, von ihren Anfängen im 19. Jahrhundert, die zum Holocaust führten, bis zu seinen Kontinuitäten nach 1945. In Der neue faschistische Körper verknüpfst du diese beiden Stränge deiner Arbeit, indem du die Beziehung zwischen Sexualität und Behindertenfeindlichkeit im Faschismus untersuchst. Wie artikulieren sich diese Phänomene in gegenwärtigen Formen des Faschismus?
DH: Eines der Dinge, die mir an zeitgenössischen, postmodernen Formen des Faschismus – wie wir sie derzeit auf beiden Seiten des Atlantiks beobachten – am stärksten auffällt, ist genau jene seltsame Kombination aus obsessiver Behindertenfeindlichkeit und dem, was ich als sexy Rassismus bezeichne: erotisierte Botschaften, die Angst, Empörung, Abneigung gegenüber vermeintlich Schwächeren mobilisieren sollen - aber auch Erregung und Nervenkitzel. Wir erleben derzeit die Wiederbelebung eines libidinös hochaufgeladenen Sozialdarwinismus. Ich finde es unheimlich, dass historische Themen, die ich ursprünglich getrennt voneinander verfolgt habe, sich in Vergangenheit und Gegenwart als so eng miteinander verflochten erweisen. Wir können derzeit beobachten, dass die Forderung nach einer Neuhierarchisierung des menschlichen Wertes ganz bewusst eingesetzt wird, um die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte zu untergraben und zu erodieren; Errungenschaften, die eine breite Unterstützung für die kostbaren Werte der menschlichen Gleichheit, Freiheit und Solidarität gesichert haben.
JL: Die Psychoanalyse, ihre Konzepte und ihre Geschichte, ist ein weiteres Forschungsinteresse von dir, das zu deinem Buch Cold War Freud. Psychoanalyse in einem Zeitalter der Katastrophen (2017) führte. Darin zeichnest du die Debatten um konkurrierende Theorien über Begehren, Angst, Aggression, Schuld, Trauma und Lust vor dem Hintergrund ihres historischen Kontexts nach: Nationalsozialismus und Holocaust, sexuelle Revolution, Feminismus, Schwulenbewegung, Antikolonialismus und Friedensbewegung. Welche Rolle spielt die Psychoanalyse in deinen anderen Büchern und in Der neue faschistische Körper?
DH: Ich wollte schon immer die komplexen Probleme von konflikthaftem Begehren, der Instabilität von Bedeutungen oder den immer mysteriösen Beziehungen zwischen psychischer Innerlichkeit und sozialem Kontext besser verstehen. Bereits in meinen frühesten Texten zur Religionsgeschichte des 19. Jahrhunderts musste ich mich damit auseinandersetzen, wie Liberale oft nicht in der Lage waren, mit den irrationalen Aspekten des politischen Lebens und der scheinbar starken emotionalen Wirksamkeit rechter Bewegungen umzugehen. Es waren Personen, die in Die Politisierung der Lust vorkamen, die mich zu meinen Recherchen zu Cold War Freud inspirierten. Sie vermischten Freud mit Marx, aber auch mit Masters und Johnson, hatten eine brisante Kombination von Ex-Nazis und re-emigrierten Juden und Jüdinnen als Mentor*innen und entschlossen, Freud als Teil der jüdischen radikalen Tradition der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wiederzuentdecken. Ihr Freud war sex-positiv und schwulenfreundlich. Du kannst dir sicher vorstellen, wie schockiert ich war, als ich begann, mich mit der Psychoanalyse der Nachkriegszeit in den USA zu beschäftigen – sie war autoritär und engstirnig – aber das führte schließlich zu der Erkenntnis, dass es in der Zeit des Kalten Krieges nicht nur eine Handvoll, sondern Hunderte von verschiedenen Versionen von Freud gab.
Ich würde aber auch sagen, dass meine früheren Arbeiten zur Psychoanalyse mir geholfen haben, etwas besser mit dem grotesken Sadismus fertig zu werden, den die Archivforschung für Eugenische Phantasmen zutage gefördert hat. Die Verbrechen gegen Behinderte basierten sowohl auf zynischem Karriere-Opportunismus als auch auf phantasmatischen Wahnvorstellungen. Zusätzlich war Freuds Konzept der Nachträglichkeit in Hinblick auf die verstörend lange Verzögerung der Anerkennung der Menschlichkeit von Menschen mit Behinderungen hilfreich, aber auch ganz allgemein angesichts der wiederkehrenden seltsamen Rückkopplungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Solche Rückkopplungen sind ein zentraler Teil eines kleinen Vorläuferbuchs mit dem Titel Unlearning Eugenics, das sich mit reproduktiver Gerechtigkeit und Behinderung befasst, und sie sind auch in Der neue faschistische Körper deutlich zu erkennen.
JL: Die rechtsextreme AfD bekämpft, das beschreibst du in Der neue faschistische Körper, auf geradezu obsessive Weise die Inklusion von Kindern mit geistigen oder emotionalen Beeinträchtigungen in Regelschulen – eine Form der Behindertenfeindlichkeit, die, so scheint es, auf eine tiefsitzende Unsicherheit zurückzuführen ist, als Nation nicht „intelligent genug” zu sein. Die Anti-Inklusionsmobilisierung der AfD könnte als Ausdruck einer narzisstische Kränkung verstanden werden, die dadurch entsteht, dass ihr Glaube an die Zugehörigkeit zu einem überlegenen „Volk“ durch Formen der vermeintlichen geistigen Imperfektion in Frage gestellt wird. Siehst du ähnliche Formen narzisstischer Kränkung in der politischen Gefühlswelt der USA unter Donald Trump?
DH: Die derzeitige Wiederbelebung des Interesses an (vermeintlicher) Intelligenz und IQ hat mehrere Funktionen, von denen eine der wichtigsten darin besteht, in der „Natur” Rechtfertigungen für wachsende wirtschaftliche Ungleichheiten zu finden, um Sparmaßnahmen und Kürzungen im Sozialbereich zu legitimieren. Dies ist sicherlich in den USA der Fall, wo Trump ständig mit Begriffen wie „Genie“ und „niedriger IQ“ spielt, um seiner Wähler*innenschaft zu schmeicheln und die Verachtung aller Schwachen und Bedürftigen zu schüren – während er gleichzeitig die einfachen Menschen beklaut, um den Superreichen noch mehr zu schenken. Und die Beschäftigung mit der Intelligenz der Bevölkerung ist sicherlich auch ein Element im Aufstieg des Smartness-Talk in Deutschland – ein Phänomen, das leider weit über die AfD hinausgeht. Ja, alle Formen des Faschismus vermitteln der designierten In-Group einen erhebenden narzisstischen Bonus. Die Fantasie einer Herrenrasse, die nicht anerkennen will, dass Verletzlichkeit und gegenseitige Abhängigkeit Teil des menschlichen Lebens sind, die wir besser akzeptieren sollten, hat etwas Erbärmliches. Aber der vehemente Widerstand der AfD gegen Inklusion in Schulen und ihre Forderung, dass Kinder mit Behinderungen weiterhin segregiert bleiben sollen – wodurch Behinderung für die Mehrheitsgesellschaft unsichtbar bleibt – ist noch schädlicher.
Dagmar Herzog ist Distinguished Professor of History am Graduate Center der City University New York. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen zur Sexual- und Geschlechtergeschichte der Moderne, zur Holocaustforschung und zur Geschichte der Religion. Zuletzt erschien von ihr Eugenische Phantasmen. Eine deutsche Geschichte (2024), Cold War Freud. Psychoanalyse in einem Zeitalter der Katastrophen (2023) und Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts (2021/2005).
ISBN 978-3-948200-21-3, 18€
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